2020-10-23 11:01:30
Ganz oder Gar nicht

Von der Doppelmoral der Bequemlichkeit
Simeon Weigel
Dieser Artikel behandelt die Einstellung, die mich dazu führt, erstens einen Film, den ich angefangen habe, auch fertig anzusehen und zweitens ein Kapitel, das ich angefangen habe zu schreiben, noch eine Weile unfertig liegen zu lassen. Diese Bequemlichkeit bringt mich dazu in einer Situation zu sagen: "Rom wurde nicht an einem Tag erbaut!", und in der anderen: "So viel Zeit muss sein!"
Die Bequemlichkeit sagt mir in diesem Moment: Viel mehr brauchst du zu diesem Thema doch nicht zu schreiben. Der Fleiß hingegen möchte eine Ausarbeitung und eine Lösung für das erkannte Problem sehen, bevor er meine Finger ruhen lässt.
Die Bequemlichkeit erlaubt sich zu behaupten, dass es wichtiger sei, ausgeschlafen zu sein, als die Aufgaben des Tages fertig bearbeitet zu haben. Sie flüstert uns, dass es wichtiger ist die Ruhe zu haben als den Erfolg. Sie beurteilt das Bett und das Sofa, die zu ihren Körperteilen gehören anders, als den Schreibtisch und die Werkbank. Doch hat sie dazu einen driftigen Grund oder ist ihr Urteil völlig subjektiv? Mir fällt auf, dass ich diese Frage für mich selbst noch nicht geklärt habe.
Ich habe die Bequemlichkeit personifiziert und ihr eine Doppelmoral vorgeworfen, doch die Begründung für diese Anklage steht noch aus. Nehmen wir für diese Begründung noch andere Personifikationen vor:
Zuerst ist da der Fleiß. Er tut Dinge um der Arbeit selbst willen. Dann ist da der Ehrgeiz. Er will, dass die Dinge, die er tut, ihm letztlich eine Belohnung einbringen. Es fehlt vielleicht noch die Lust. Sie strebt nach Erfüllung, ähnlich wie der Ehrgeiz. Doch im Gegensatz zu ihm arbeitet sie nicht, um letztendlich zu empfangen. Sie nimmt sich schlicht, was sie greifen kann.
Wir haben jetzt also vier Personen in einem Raum, zum Beispiel in meiner Seele oder in deiner.
Interessant ist, dass diese Personen in verschiedenen Paaren kooperieren können, um verschiedene Ziele zu erreichen oder auch nicht. Der Ehrgeiz und die Lust haben oben genannte Gemeinsamkeit. Sie streben nach einer Erfüllung. Ihr Antrieb ist extrinsisch. Auf dieser Basis sind sie unzertrennlich oder schwer abzugrenzen, denn sie haben das gleiche Ziel.
Wenn man aber den Fleiß hinzu nimmt sieht man, dass er sich vom Ehrgeiz wiederum nicht leicht unterscheiden lässt. Denn beide arbeiten angestrengt. Es ist schwer zu sagen, während sie arbeiten, ob sie auf die Vollendung des Werkes hin oder auf den Lohn hin arbeiten, denn sie haben die gleiche Herangehensweise.
Ähnliches kann man wiederum von Fleiß und Bequemlichkeit sagen auch wenn es uns intuitiv wohl nicht einfällt. Beide sind intrinsisch. Der Fleiß hat Freude an der Arbeit, nicht um einer Belohnung willen, sondern er freut sich wirklich an der Arbeit selbst. Die Bequemlichkeit ruht zufrieden und erwartet keine Veränderung. Sie freut sich wirklich an ihrer Untätigkeit. Beide haben kein höheres Ziel.
Aber selbst Bequemlichkeit und Lust haben eine große Überschneidung, einen Bereich, in dem sie sich nicht scheiden lassen. Sie sind nicht bereit Opfer zu geben. Sie nehmen keine weiten Wege auf sich, um schöne Landschaften zu betrachten, sie schalten viel eher den Fernseher ein und die eine ist völlig zufrieden, die andere befriedigt sich in dieser einfach zu erreichenden Unterhaltung.
Insofern ist die Bequemlichkeit nicht per se besser oder schlechter als die anderen drei. Es ist an sich nicht so leicht zu sagen, dass eine dieser Kräfte moralisch oder unmoralisch ist, da sie in derartig symmetrischen Beziehungen stehen. Es bleibt aber das Dilemma oder viel mehr das Tetralemma, da es ja vier Antriebskräfte sind. Denn wir können sie nicht alle zugleich befriedigen.
Deshalb möchte ich sie unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachten. Ich gehe davon aus, dass sich unter diesem Gesichtspunkt eine der Kräfte als die Beste herausstellt, auch wenn sie es bestimmt nicht unter jedem Gesichtspunkt täte. Intuitiv kam mir derjenige Gesichtspunkt, der mit der Personifikation am nächsten zusammenliegt: Leben - oder Lebendigkeit.
Unter diesen Punkt fallen vier weitere Punkte. Soweit ich es aus dem Biologieunterricht noch weiß waren es die Folgenden:
- Reizbarkeit
- Stoffwechsel
- Wachstum
- Fortpflanzung mit Vererbung
Meine Freundin, die noch zur Schule geht, wird mich vielleicht korrigieren, wenn sie das ließt.
Betrachten wir zuerst die Bequemlichkeit, die ja das Thema dieses Essays ist: Man könnte meinen, dass sie sich fortpflanzt, denn bequeme Eltern bringen oft auch bequeme Kinder hervor. Doch dabei handelt es sich in meinen Augen um die Vererbung der Eltern. Die Bequemlichkeit selbst gibt sich hier nicht weiter. Viel mehr ist es wahrscheinlich, dass aus der Bequemlichkeit der Eltern heraus ein Defizit entsteht, das die Kinder mit anderen Antriebskräften stillen müssen. Ich gehe sogar soweit zu sagen, dass die Bequemlichkeit sich selbst auslöscht, viel mehr als sie sich fortpflanzt. Denn wenn in einer Beziehung eine Person bequemlich ist, muss die andere einen Schritt aus ihrer Bequemlichkeit tun. Es können in laufenden Beziehungen nicht beide völlig antriebslos sein. In sofern schließt die Bequemlichkeit des einen Partners die des Anderen aus. Damit ist die Bequemlichkeit schon einmal nicht lebendig.
Gehen wir weiter zur Lust. Die Lust nimmt sich, was sie greifen kann und kann sich somit sehr gut fortpflanzen. Man spricht deshalb auch von Rachegelüsten. Denn wenn einer sich rächt ist es wahrscheinlich, dass der andere sich auch wieder rächen wird, sofern er das noch kann. Wenn einer mir etwas wegnimmt, bekomme ich Lust, es ihm auch wieder wegzunehmen, möglichst noch etwas mehr dabei zu bekommen.
Aber betreibt die Lust Stoffwechsel? Nein, denn sie gibt nichts her. Sie will nur nehmen. Oder Wächst die Lust? Ja. Und Nein. Manch eine Lust verwandelt sich in Bequemlichkeit oder wird faul, wenn sie befriedigt wird. Eine solche Lust wächst nur so lange wir sie weder befriedigen noch bekämpfen. Sie ist in dieser Hinsicht so lebendig wie ein Tumor. Wenn er den Wirt aufgefressen hat, ist er tot. Ist Lust reizbar? Bedingt Ja, aber eigentlich wird sie nur geweckt oder sogar erzeugt und dann ist sie schwer ablenk- oder beeinflussbar. Die Lust scheint also auch nicht besonders lebendig zu sein.
Kommen wir also zum Ehrgeiz, der ihr wie gesagt ähnelt. Und zwar ähnelt er ihr in dem Unausgeglichenen Stoffwechsel. Wie sie, gibt der Ehrgeiz nicht gerne, sondern strebt nach der eigenen Ehre - mit dem Unterschied, dass er etwas geben kann, um dieser Ehre näher zu kommen. Also will ich diesen Punkt nicht gegen ihn verwenden. Doch der Ehrgeiz ist auch nicht unbedingt ein Wesen, dass sich fortpflanzt. Es ist ein wenig ähnlich wie bei der Bequemlichkeit. Wenn eine Person nach Ehre strebt, wird sie die Ehre der anderen soweit beschneiden, wie es ihrer Ehre zuträglich ist. So fördert sie in dieser Person allenfalls Rachegelüste. Der Ehrgeiz ist allerdings sehr Reizbar, was ihn weiter von der Lust unterscheidet. Wenn die Ehre angetastet wird, schreitet der Ehrgeiz zur Tat, der schon vorher in der Person geschlummert haben muss. Auch wächst Ehrgeiz offensichtlich. Zumindest weiß ich keine andere Erklärung, warum jemand, der vielleicht einen kleinen Wettbewerb gewonnen hat, nun einen größeren Wettbewerb anstreben würde. Wenn der Ehrgeiz sein Ziel erreicht hat, dann wächst er weiter und sucht sich ein neues Ziel. So ist der Ehrgeiz bis auf den zweifelhaften Stoffwechsel eine sehr lebendig wirkende Eigenschaft.
Dennoch glaube ich, dass der Fleiß ihn darin übertrifft. Aber lass uns das überprüfen: wächst der Fleiß? Fleiß hat kein Ziel, sondern lediglich einen Weg, auf dem er geht. Das heißt, dass der Fleiß sich an der Arbeit freut, die er tut. Aber das stimmt nicht ganz. Denn sonst würde ihn nichts von der Wut unterscheiden, die sich unbändig betätigt. Vielmehr hat der Fleiß doch ein Ziel. Er möchte mit etwas Zweckhaftes tun. Das heißt einerseits, dass ein Wesen ein Verständnis von den Auswirkungen seiner Handlungen haben muss, um Fleiß zu kennen und andererseits, dass der Fleiß mit dem Wesen wächst. Denn unser Verständnis über diese Zusammenhänge wächst wohl unser ganzes Leben lang. Und so wächst der Fleiß aus der einfachen Arbeitswut oder noch wilderem Tatendrang oder vielleicht sogar aus einer Hyperaktivität, die wir als Krankheit betrachten. Doch das ist ein anderes Thema.
Nächste Frage: Pflanzt sich der Fleiß fort? Vielleicht vermag ich es, diese Frage in Kürze zu beantworten. Ja er pflanzt sich fort. Denn es gibt viele fleißige Lehrer und in der Tat würde ich sagen, dass jeder gute Lehrer fleißig ist. Denn er muss bereit sein, den Kindern sein Wissen weiterzugeben ohne sich zu fragen, ob diese später vielleicht ihren Lehrer übertreffen könnten. Er muss zulassen, dass jemand seinen Wissensstand erreicht, viel mehr noch er muss dafür arbeiten.
Weiter: Ist der Fleiß reizbar? Gewiss. Er wird von der Bequemlichkeit anderer gereizt, die Defizite hinterlassen in die der Fleiß seine Kraft einbringen kann. Er wird von der Lust anderer gereizt, die ebensolche Defizite hinterlässt und auch von jenen Defiziten an Ehre die der Ehrgeiz hinterlässt.
Daraus schließe ich, dass der Fleiß lebendig ist, was doch sehr sympathisch klingt. Lasst uns also fleißig sein, damit andere so zu uns sein können, wie wir zu ihnen sind, ohne dass ein Problem entsteht. Die Doppelmoral konnte ich der Bequemlichkeit amit zwar nicht nachweisen, doch ich attestiere ihr mit einem Augenzwinkern den Tod - zumindest was mein Leben betrifft.
Ich freue mich über eure Kommentare. Vielleicht hat von euch ja jemand ein Argument, dass diese Doppelmoral besser zu greifen bekommt oder auch irgend einen anderen schönen Gedanken zur Thematik.
Fußnote: Aus Bequemlichkeit lag der Artikel noch eine Weile hier. Den Anfang hatte ich aber schon am 23.09. geschrieben.